„In Klönstedt sind alle willkommen“, sagt Julia Nissen, Gründerin des ersten digitalen Dorfs in Deutschland. © Julia Nissen
In Schleswig-Holstein gilt Julia Nissen als Vorzeigefrau für Digitalisierung und modernes Landleben. Seit dem Frühjahr 2022 ist sie außerdem Bürgermeisterin von Klönstedt, einem digitalen Dorf. Wie es dazu kam und was Menschen in dem virtuellen Dorf erleben können, erzählt Julia Nissen im Interview.
Frau Nissen: Wie kamen Sie auf die Idee, ein digitales Dorf zu gründen?
In meiner ersten Elternzeit 2016 habe ich angefangen, den Blog „Deichdeern“ zu schreiben. Im Mittelpunkt stehen Geschichten rund ums Landleben. Später kamen mit „StadtLandWichteln“ und „App aufs Land“ weitere Projekte dazu. Bei beiden geht es darum, Menschen vom Land und aus der Stadt miteinander zu vernetzen. Irgendwann 2021, während meiner dritten Elternzeit, dachte ich: „Alles ganz schön viel. Da muss Ordnung rein. Wir brauchen etwas, das alles zusammenhält.“ Dass es ein Dorf geworden ist, hat auch mit meinen Kindern zu tun. Ich saß im Büro und beobachtete, wie sie mit dem Gemeindestempel meines Mannes spielten, der Bürgermeister ist. In dem Moment hat es bei mir Klick gemacht: Alle Projekte und Geschichten drehen sich ums Landleben. Warum verbinden wir nicht alles in einem Dorf?
Sie sprachen davon, dass Sie Stadt- und Landmenschen zusammenbringen möchten. Was steckt dahinter?
Ich wünsche mir, dass die beiden Lebenswelten wieder näher aneinanderrücken, dass wir mehr voneinander wissen. In Klönstedt können sich Menschen vernetzen, austauschen, voneinander lernen. Jeder ist willkommen. Wer überlegt, von der Stadt aufs Land zu ziehen, kann in Klönstedt herausfinden, ob er oder sie die richtige Vorstellung vom Landleben hat. Viele stellen sich das idyllischer vor als es tatsächlich ist. Ich sage gern: Klönstedt ermöglicht ein Dorfleben auf Probe.
Wie ist das Dorfleben in Klönstedt organisiert?
Wer einfach mal vorbeischauen möchte, kann das jederzeit tun und in unserem kostenfreien Online-Magazin viel über das Leben auf dem Land erfahren. Es gibt aber auch die Möglichkeit, in Klönstedt zu wohnen und mit einem digitalen Zweitwohnsitz Teil unseres Netzwerks zu werden. Dafür bieten wir ein Abo. Es öffnet die Tür zu virtuellen Vorträgen, Workshops, DIYs und Dorftreffen. Außerdem können sich die Bewohner von Klönstedt einen exklusiven Podcast u. a. mit meinem Mann und mir anhören.
Worüber tauschen sich die Klönstedter:innen am liebsten aus?
Es geht um alles, was Menschen auf dem Land beschäftigt. Wichtige Themen sind Mobilität und Strukturen im ländlichen Raum: Wo gibt es Banken und Supermärkte? Wie sieht es mit Kitaplätzen aus? Als ich mit meinem Mann aufs Land gezogen bin, waren Kitaplätze das entscheidende Kriterium für die Wahl des Wohnortes. Weitere Themen, über die wir häufig sprechen, sind Landwirtschaft und Ernährung: Woher kommen Lebensmittel oder welche Fortschritte gibt es in der Pflanzenzucht? Eine große Rolle spielen außerdem Gesundheitsfragen. Wir greifen Themen auf, die gerade in den ländlichen Regionen für viele noch tabu sind, und klären auf. Beispiele sind etwa ein unerfüllter Kinderwunsch oder Endometriose, eine der häufigsten gynäkologischen Erkrankungen.
In Ihrer Heimat Norddeutschland werden Sie als Poster-Frau für Digitalisierung, modernes Landleben und erfolgreiche Frauen gehandelt. Was heißt das für Sie: modernes Landleben? Und warum braucht ein solches die Digitalisierung?
Nehmen wir mich als Beispiel. Projekte wie Klönstedt, die Redaktionsleitung für eine Kinderzeitschrift und meine Arbeit für ein Unternehmen in Berlin: all das geht nur mit einer leistungsstarken Internetanbindung. Damit ist die Digitalisierung Voraussetzung dafür, dass ich beruflich genau das machen kann, was ich möchte. Das ist für mich ein wichtiger Aspekt, wenn ich über modernes Leben nachdenke – egal ob auf dem Land oder in der Stadt. Die Digitalisierung ist der Schlüssel dazu.
Vor welchen Herausforderungen stehen die ländlichen Regionen aus Ihrer Sicht und wie meistern wir sie?
Urbanisierung ist hier auf jeden Fall ein Stichwort. Wir müssen etwas tun, damit nicht immer mehr Menschen vom Land in die Stadt ziehen. Mit Klönstedt möchten wir einen kleinen Beitrag dazu leisten: Indem wir ein Netzwerk schaffen, das alle Menschen willkommen heißt und Lust aufs Landleben macht.
Wissen Sie schon, was passiert, wenn das digitale Dorf irgendwann so viele Bewohner haben sollte, dass es gar kein Dorf mehr ist?
Ich mache das nicht an der Einwohnerzahl fest. Mir geht es um das Dorfgefühl. Es ist das Gegenteil von Anonymität. Dorf bedeutet für mich, Teil eines Ganzen zu sein, sich verstanden und akzeptiert zu fühlen. Es geht um Dialog, ums Miteinander, um ein wohliges Gefühl.
Zur Person
Julia Nissen lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Bargum, im Herzen Nordfrieslands. Sie hat Agrarwissenschaften in Kiel studiert und bezeichnet sich selbst als Landleben-Bloggerin und Landfluencerin. Als Deichdeern schreibt sie seit einigen Jahren über das Leben zwischen Kind, Küche und Kuhstall, sie hat eine App für Landerlebnisse (App aufs Land) gegründet und gibt gemeinsam mit dem Landwirtschaftsverlag ein Magazin für kleine Landentdecker (Matsch!) heraus. Außerdem arbeitet Julia Nissen für das Forum Moderne Landwirtschaft in Berlin und gehört zu den Gründerinnen der Jungen Landfrauen Nordfrieslands. Sie ist nicht nur First Lady des 600-Seelen Örtchens Bargum, sondern seit dem Frühjahr 2022 Bürgermeisterin von Klönstedt, dem ersten digitalen Dorf Deutschlands. Der Namen verweist auf die zentrale Idee von Klönstedt: Es geht ums Klönen. Für Julia Nissen bedeutet das mehr als nur reden. Fürs Klönen nimmt man sich bewusst Zeit und genießt es. In diesem Sinne nehmen sich die Klönstedter:innen Zeit für schöne Geschichten und fürs Vernetzen.