Interview nebenan.de: Digitale Vernetzung in der Nachbarschaft - Digitales Bürgernetz

nebenan.de-Gründer Till Behnke: „Wir wollen echte Begegnungen ermöglichen“

#zuHause 17. Mai 2022

nebenan.de-Gründer Till Behnke © nebenan.de

Nachbarschaften aus mehr als 100 Kleinstädten und Dörfern sind auf der digitalen Plattform nebenan.de aktiv, berichtet Gründer Till Behnke. Im Interview spricht er über den Mehrwert der digitalen Vernetzung auf dem Land und erzählt, wie sich Nachbarschaften mit digitaler Unterstützung organisieren. 

 

Im Dorf kennt man einander, so das Klischee. Welche Rolle spielt da die digitale Vernetzung, Herr Behnke?

Die digitale Vernetzung ist im dörflichen Bereich genauso sinnvoll wie in der Stadt. Die alten Begegnungsformate wie das sonntägliche Treffen in der Kirche haben nicht mehr die Bedeutung wie früher. Und je kleiner ein Ort ist, desto schwerer ist es für Zugezogene, Zugang zur bestehenden Gemeinschaft vor Ort zu bekommen. Unsere App wird auch in den Dörfern rege genutzt, die aktivsten Nachbarschaften auf nebenan.de liegen im ländlichen Raum. Es ist für die Menschen einfacher und übersichtlicher, die App zu nutzen, als in vielen Messenger-Gruppen gleichzeitig aktiv zu sein.

 

Wofür wird die App im ländlichen Raum genutzt?

Im ländlichen Raum spielen Mitfahrgelegenheiten eine größere Rolle als in der Stadt, seltener wird dort nach Werkzeug zum Ausleihen gefragt. Und wir sehen, dass über die digitale Plattform auch sinnvolle Projekte gestartet werden, dass sich zum Beispiel mehrere Dörfer zusammentun und prüfen, wie sie die Versorgung vor Ort verbessern können – sei es durch einen Supermarkt, sei es durch die Gründung einer Genossenschaft. Gleich ist aber, dass man sich hier wie dort über die App vernetzt, dass ein digitales Tool der Icebraker ist, um in Kontakt zu kommen.

Eine Gießkanne steht inmitten grüner Pflanzen auf einer Bank in einem Garten.
Ob Blumen gießen oder Mitfahrgelegenheit finden – in vielen Fällen kann die Nachbarschaft helfen. © Jason Leung/Unsplash

Wie ergänzen sich Begegnungen im echten Leben und im digitalen Raum?

Früher wurde immer gefragt, ob das Digitale nicht das Reale verdrängt. Diese Frage stellt sich bei uns gar nicht: Wir verbinden lokal begrenzt Menschen, die zwar nah beieinander leben, aber nicht direkt miteinander vernetzt sind. Das digitale Netzwerk führt dann zu mehr Austausch. 80 Prozent der Interaktionen finden bei uns zwischen Menschen statt, die ohne die App gar nicht in Kontakt gekommen wären! Auch bei einer Gemeinde mit 1.500 Haushalten kennt ja nicht jeder jeden. Es hilft, wenn man auf einfachem Weg Unterstützung und Mitstreiterinnen finden kann. Seit 2019 messen wir die soziale Wirkung von nebenan.de: In dem jüngst veröffentlichten Wirkungsbericht für das Jahr 2021 kam unter anderem heraus, dass 96 Prozent der nebenan.de-Nutzer sich regelmäßig ausführlicher mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn austauschen – online sowie offline. Außerdem geht es bei uns nicht darum, wie sonst bei Social Media, immer mehr Zeit im Virtuellen zu verbringen, sondern um echte Begegnungen, in der Stadt genauso wie im ländlichen Raum. Wenn ich auf nebenan.de frage, ob mir jemand eine Schubkarre ausleiht, wird online etwas angebahnt, was in ein Treffen mit Nachbarn mündet.

„Vor der Pandemie war „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ eine relativ abstrakte Idee. In den letzten zwei Jahren ist das sehr viel relevanter geworden, die Kanzlerin hat den Begriff benutzt, er fiel in der Tagesschau.“

Mit dem Tag der Nachbarn, der dieses Jahr am 20. Mai stattfindet, unterstützt nebenan.de deutschlandweit nicht-virtuelle Begegnungsformate. Was organisieren Nachbarschaften da?

Die Initiative geht zurück auf den europäischen Tag der Nachbarschaft, der zum Beispiel in Frankreich schon seit 30 Jahren wie ein dezentrales Volksfest gefeiert wird. Neun Millionen Menschen stellen da einfach Tische und Stühle auf die Straße, um ins Gespräch zu kommen. Der Kerngedanke lautet, die lokale Gemeinschaft zu stärken, indem man mehr Zeit miteinander verbringt. Als nebenan.de verschicken wir Mitmach-Kits mit Wimpelketten und Straßenkreide. Es gibt in Deutschland mittlerweile mehr als 1.000 Feste, die in dem Rahmen stattfinden. Das reicht von der Stadtteilrallye bis zum gemeinsamen Nudelmachen. Auch kleinere Gemeinden sind dabei – zum Beispiel plant eine Nachbarschaft ein Hofkonzert, anderswo veranstalten Kreative einen Tag der offenen Tür, um Einblick in ihre Arbeit zu geben. 

 

Der Tag der Nachbarn ist also ein Anlass, sich zu treffen und sich auszutauschen?

Genau. Und das trägt zu Lebensqualität und Zufriedenheit bei. Grundsätzlich geht es bei lokaler Gemeinschaft ja darum, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und damit auch unsere Demokratie. Vor der Pandemie war „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ eine relativ abstrakte Idee. In den letzten zwei Jahren ist das sehr viel relevanter geworden, die Kanzlerin hat den Begriff benutzt, er fiel in der Tagesschau.

Haben die Pandemie und der Wegfall von sozialen Begegnungen denn dazu geführt, dass mehr Nachbarn sich digital vernetzen?

In den Lockdowns haben wir das enorm gespürt. Diejenigen, die schon angemeldet waren, haben die Plattform doppelt so häufig genutzt, und wir hatten das Dreifache an Registrierungen, obwohl wir unser Marketing ziemlich zurückgefahren hatten. Die App war die Plattform, um Hilfsbereitschaft zu organisieren, zum Beispiel Einkaufshilfe für Risikogruppen oder Gassigehen, wenn jemand in Quarantäne ist. Weil manche Ältere nicht online sind, haben wir bei nebenan.de eine Hotline eingerichtet, um diese Angebote zu vermitteln. Bei vielen ging es auch darum, einfach mit jemandem zu sprechen. Das wird zunehmen: Studien gehen davon aus, dass in Deutschland ab 2030 jede zweite Person ab 60 Jahren allein lebt. Die digitale Vernetzung ist da ein niedrigschwelliges Angebot, sich auszutauschen. Schon heute gibt es in vielen Nachbarschaften Stammtische, Koch-, Brettspiel- oder Kartenspielgruppen.  

 

Durch den Krieg in der Ukraine fliehen viele Menschen nach Deutschland. Welche Rolle spielt die digitale Vernetzung bei der Organisation von Hilfe in den Nachbarschaften?

Wir haben nebenan.de 2015 gegründet. Bereits 2016 haben wir hundertfach die Erfahrung gemacht, wie Menschen, die zu uns geflüchtet sind und erst einmal in Turnhallen übernachtet hatten, sehr schnell unterstützt wurden. Wenn für eine Familie Geschirr oder Möbel gesucht wurde, haben sich innerhalb von Stunden oft 30, 40 Leute gemeldet. In kürzester Zeit war nicht nur die Wohnung möbliert. Der tollste Effekt war, dass die Nachbarinnen und Nachbarn so den neuen Mitmenschen an der Türschwelle schon einmal begegnet waren. Das hilft beim Ankommen.

 

Wie ist das aktuell?

Hier kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung berichten. Wir haben eine Mutter mit drei Kindern aufgenommen. Am späten Abend haben wir festgestellt, dass noch eine Windel in passender Größe fehlte, und in die Nachbarschaft gefragt. Innerhalb von einer Viertelstunde haben wir mehrere Angebote bekommen und darüber hinaus viel Unterstützung: Einer kann russisch, eine Nachbarin kann beim Behördengang begleiten, eine andere hat passende Kinderkleidung übrig. Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend. Die digitale Plattform ist ein gutes Hilfsmittel, damit diese Hilfsbereitschaft und der Bedarf auch zusammenfinden. Noch ist das eher ein Thema in den Städten. Aber auch wenn Menschen neu in Dörfer kommen, kann die digitale Nachbarschaft helfen. Das haben wir 2016 schon gesehen.

Zu sehen ist ein Smartphone-Bildschirm, auf dem die App nebenan.de geöffnet ist.
Ansicht der nebenan.de-App © nebenan.de

So funktioniert nebenan.de 

nebenan.de wurde 2015 in Berlin gegründet. Im Mittelpunkt des sozialen Netzwerks steht die „Nachbarschaft“ – in Städten sind das oft die umliegenden Straßenzüge, bei kleineren Gemeinden das ganze Dorf. Menschen können sich dort mit ihrem Klarnamen registrieren und mit anderen aus ihrem Wohnumfeld digital vernetzen. In ihrem persönlichen Feed sind dann zum Beispiel Aktivitäten, Tausch- und Hilfsangebote oder Flohmarktinserate dieser Nachbarinnen und Nachbarn sichtbar. Verfolgt werden kann zudem, was in angrenzenden Nachbarschaften los ist. In Deutschland haben aktuell etwa 8.000 Nachbarschaften die „kritische Masse“ erreicht, wie Till Behnke sagt. Dort sind also so viele Menschen aktiv, dass Angebote und Gesuche ausreichend Resonanz finden. Zu nebenan.de


Der Online-Auftritt zum Tag der Nachbarn

Artikel Teilen