Bürgermeister Marian Schreier über Digitale Verwaltung - Digitales Bürgernetz

Bürgermeister Marian Schreier: „Mehr Mut zum Experimentieren und Ausprobieren“

#Arbeit 8. Februar 2022

Summer of Pioneers 2021 in Tengen – eines der (digitalen) Innovationsprojekte, die Bürgermeister Marian Schreier in der Kleinstadt initiiert und umgesetzt hat. © Katja Leyendecker

Als Marian Schreier 2015 in Tengen zum Gemeindeoberhaupt gewählt wurde, war er mit 25 Jahren der jüngste Bürgermeister Deutschlands. Im Interview spricht Schreier über digitale Verwaltung und elektronische Akten, über Coworking, Bürgerbeteiligung und Mut zur Veränderung.

Herr Schreier, können Sie uns einen direkten Einblick geben: Wie digital ist die Verwaltung in Tengen?

In den letzten Jahren haben wir die Digitalisierung in der Verwaltung in unterschiedlichen Bereichen vorangetrieben. Beispielsweise haben wir ein elektronisches Ratsinformationssystem für die Gemeinderatsarbeit. Da gibt es keine Papierunterlagen mehr. Außerdem arbeiten wir mit einem Dokumentenmangementsystem beziehungsweise einer elektronischen Akte. Wir haben allerdings noch nicht komplett umgestellt. Es gibt auch noch die gute alte Papierakte. Die digitale Akte nutzen wir unter anderem für die fachübergreifende Zusammenarbeit. Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Bereichen können darauf zugreifen. Das beschleunigt Prozesse, weil keine Papierakte mehr im Haus herumgegeben werden muss, sondern alle gleichzeitig an dem Vorgang arbeiten. In der Kommunikation nach außen, etwa bei der Bürgerbeteiligung, setzen wir auch auf Digitalisierung und haben eine eigene Beteiligungsplattform, beteiligung.tengen.de, für die Bürgerinnen und Bürger eingerichtet. Zu Beginn der Pandemie haben wir außerdem eine digitale Bürgerversammlung ausgerichtet.

Können die Bürgerinnen und Bürger Anträge digital stellen? 

Damit haben wir begonnen. Aber man muss dazu sagen, dass viele organisatorische oder rechtliche Anpassungen auf Landes- oder Bundesebene erforderlich sind. Wir haben aber alle Verwaltungsdienstleistungen rund um das Thema Abfallentsorgung digitalisiert: etwa die Bestellung oder den Austausch einer Mülltonne. Bürgerinnen und Bürger, die wir zufällig aus dem Melderegister gezogen haben, waren eingeladen, diesen Prozess gemeinsam mit uns zu gestalten. Wir haben mit ihnen diskutiert, wie ein Formular gestaltet sein sollte. Ist die Sprache verständlich? Sind die Schritte nachvollziehbar? Dann haben wir einen digitalen Prototypen entwickelt und mit ihnen getestet. Heute läuft alles digital.

Wie muss sich Verwaltung verändern, um moderner zu werden? 

Es ist nicht so, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung nicht modern oder nicht willig wären. Die Strukturen, in denen sie sich bewegen und die Art und Weise, wie wir Politik und Verwaltung organisieren, stammen aber aus einer ganz anderen Zeit. Wir müssen diese Strukturen verändern. Dann entsteht auch Aufbruch und Innovation. Wir brauchen neue Formen der internen Zusammenarbeit, aber auch Räume und Mut zum Experimentieren und Ausprobieren. Und wir müssen digitale Werkzeuge entwickeln, die uns dabei helfen, die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu lösen.

„Wir müssen diese Strukturen verändern. Dann entstehen Aufbruch und Innovation.“

Die Pandemie zeigt, dass Deutschland bei der Digitalisierung der Behörden Nachholbedarf hat. Welche Vision haben Sie vom digitalen Staat?

Wir sind tatsächlich noch nicht da, wo wir sein sollten. Ich sehe zwei Grundvoraussetzungen. Zum einen die elektronische Identifizierung. Ich muss mich elektronisch ausweisen können, so wie ich das in der analogen Welt mit dem Personalausweis oder dem Reisepass mache. Wir haben dazu grundsätzlich die elektronische Funktion im Personalausweis. Zum anderen braucht es – und das klingt jetzt sehr technisch – eine Registervernetzung. Die allermeisten Register oder Daten, die wir in Deutschland haben, sind dezentral und kommunal organisiert. Ein Beispiel sind die Meldedaten, wo jemand wohnt, wie alt er ist. Wir haben kein Bundesmelderegister. Auch wo jemand geboren oder gestorben ist, wird kommunal erfasst. Für viele Verwaltungsdienstleistungen müssen wir auf verschiedene Register zugreifen. Deshalb brauchen wir eine Methodik oder eine Plattform, um diese Register zusammenzubringen. Das verbirgt sich hinter dem Begriff Registervernetzung. Das ist eine große Hürde und ein ungelöstes Problem, vor dem wir momentan stehen. Außerdem gibt es sogenannte Formerfordernisse. In vielen Gesetzen steht, dass die Beantragung nur in Schriftform geschehen kann oder es der persönlichen Vorsprache bedarf. Davon müssen wir wegkommen und digitale Kommunikationswege auch zulassen.

2021 fand von Juni bis Ende Dezember der Summer of Pioneers im Schloss Blumenfeld in Tengen statt. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen? 

Die Idee des Summer of Pioneers ist, dass etwa 20 Personen überwiegend aus der Digital- und Kreativwirtschaft probeweise im ländlichen Raum leben und arbeiten. Bei uns war das im Schloss Blumenfeld, einer städtischen Immobilie, die seit Jahren leer steht. Wir haben dort einen Coworking-Space eingerichtet, um hybride und digitale Formen des Arbeitens zu ermöglichen. Mehr als 80 Bewerbungen sind dafür bei uns eingegangen. Sechs Monate lang gab es eine rege Aktivität im Schloss. Damit digitale Arbeit gelingt, braucht es die entsprechenden Voraussetzungen: einerseits Glasfaser, also schnelles Internet. Aber andererseits auch Orte, die neue Arbeitsformen und Gemeinschaft möglich machen. Diese Voraussetzungen haben wir durch den Cowoking-Space im Schloss geschaffen. Das übergeordnete Ziel des Summer of Pioneers ist es, das Schloss wiederzubeleben, Ideen zu entwickeln und verschiedene Nutzungen auszuprobieren, zum Beispiel Coworking und temporäres Wohnen. Wir hatten kein fertiges Konzept, sondern haben gesagt, wir testen das, sammeln Erfahrungen während des Betriebs und lernen dazu. Das ist während der sechs Monate gelungen. Es gab über 50 Veranstaltungen. Das Publikum war bunt gemischt: von kleinen Kindern, jungen Erwachsenen bis hin zu älteren Menschen. Jeden Freitag gab es einen Stammtisch, an dem viele Ältere teilgenommen haben.

Eine langer, eingedeckter Tisch steht auf Kofsteinpflaster in einem Hof. Auf den bunten Stühlen drumherum sitzen einige Menschen, andere Stühle sind noch frei.
Gemeinsam mit einer bunten Zielgruppe Neues ausprobieren, dazulernen und vor allem: das Schloss wiederbeleben, so lauteten die Ziele beim Summer of Pioneers 2021 in Tengen. © Katja Leyendecker

Wie geht es jetzt weiter?

Wir gehen in die Verlängerung und entwickeln gerade ein Konzept dafür. Das soll Ende Februar fertig sein. Dann entscheiden wir über die Ausschreibung für eine zweite Phase. Wir möchten eine dauerhafte Nutzung für das Schloss finden. Während des Summer of Pioneers haben sich fünf Cluster herausgebildet: vom Coworking über temporäres Wohnen bis hin zum Schlosscafé und zu öffentlichen Veranstaltungen. Jetzt möchten wir diese Cluster vertiefen und weiterentwickeln.

„Damit digitale Arbeit gelingt, braucht es die entsprechenden Voraussetzungen: einerseits Glasfaser, also schnelles Internet. Aber andererseits auch Orte, die neue Arbeitsformen und Gemeinschaft möglich machen.“

Wie werden solche Orte von den Alteingesessenen angenommen?

Die Akzeptanz solcher Projekte hängt davon ab, wie stark die lokale Bevölkerung eingebunden ist. Gerade in Gegenden, die jahrelang vom Wegzug junger Menschen und der Abwanderung der Industrie geprägt waren, schaffen diese Orte neue Möglichkeiten der Identifikation. Und sie geben den Menschen vor Ort neuen Mut. Beispiele wie in Görlitz zeigen aber auch, dass es bei der Entwicklung von ländlichen Regionen nicht nur um das Angebot der klassischen Erwerbsarbeit geht, es geht vor allem auch darum, die Grauzonen zwischen Tourismus und Wirtschaft, zwischen Kultur und Wirtschaft, zwischen Tradition und Neuem zu nutzen. Vereinsarbeit und Soziokultur, ein Angebot an Gastronomie und Veranstaltungen für unterschiedliche Altersgruppen scheint hier die richtige Strategie zu sein. Im ländlichen Raum übernehmen kollaborative Orte häufig wesentlich mehr Aufgaben als ein klassischer Coworking-Space in der Stadt. Hier entstehen die Begegnungen, die traditionell in Gasthöfen oder Vereinshäusern angesiedelt waren, hier wird auch Demokratie und gesellschaftlicher Austausch gelebt. 

Auf dem Areal einer alten Kalkgrube soll ein Ko-Dorf entstehen – mit einer Verbindung zum Schloss. Wie weit sind die Pläne?

Wir haben die Idee des Ko-Dorfes der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Gemeinderat muss aber noch darüber entscheiden, ob es auch realisiert wird. Das ist noch offen. Die Idee ist auch hier, neue Formen des Wohnens und Arbeitens auszuprobieren. Das Konzept des Ko-Dorfes geht von kleinen Holzhäusern aus und großzügigen Gemeinschaftsflächen, wo sich die Bewohnerinnen und Bewohner begegnen sowie auch hybrid und digital arbeiten können. Die Verbindung zum Schloss wäre, dass man den Coworking-Space als eine Art Satelliten zum Arbeiten nutzt und das Café und andere Flächen für Veranstaltungen.

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Im vergangenen Jahr hat sich Tengen auch an Update Deutschland beteiligt, einer Art Zukunftslabor. Was haben Sie sich davon erhofft?

Das ist ein neuer und spannender Weg für Städte und Gemeinden sowie andere Bereiche des öffentlichen Sektors, um Ideen und Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu entwickeln. Einzelne Personen oder Organisationen können sich melden und sagen: Ich habe eine Lösung für euer Problem. In Tengen wollten wir zum Beispiel Antworten finden, wie wir sogenannte stille oder politikferne Gruppen besser über politische Prozesse informieren und sie daran beteiligen können. Über Update Deutschland haben wir Kontakt zu der Initiative „Es geht los“ bekommen. Die Initiative arbeitet mit aufsuchender, losbasierter Beteiligung: Bürgerinnen und Bürger werden zufällig ausgewählt und eingeladen, sich zu beteiligen. Sie werden sogar zuhause besucht und persönlich eingeladen, an Veranstaltungen teilzunehmen. Mit der Initiative wollen wir unser Leitbild, unsere Stadtentwicklungsstrategie fortschreiben. Das setzen wir nun um. Gefördert wird das durch die Bundesregierung, durch das Bundesministerium des Inneren. Wir haben drei Beteiligungsmodule: eine Online-Beteiligung, eine öffentliche Veranstaltung in der Gemeindehalle und das dritte, das neue Element, ist die aufsuchende, zufallsbasierte Beteiligung. Das zeigt, dass soziale Innovationen im öffentlichen Bereich durch neue Formen der Zusammenarbeit entstehen können.

Marian Schreier steht vor einem Gebäude.
Marian Schreier © Gerber&Loesch

Zur Person 

Marian Schreier ist seit 2015 Bürgermeister der 4.700-Einwohner-Gemeinde Tengen im Hegau (Baden-Württemberg), nicht weit vom Bodensee entfernt. Bei seiner Wahl war er mit 25 Jahren der jüngste Bürgermeister Deutschlands. Bundesweit bekannt wurde Schreier durch seine Kandidatur bei der Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart, bei der er 2020 die zweitmeisten Stimmen bekam. In seinem Wahlkampf spielten die Themen Digitalisierung der Verwaltung und digitale Bürgerkommunikation eine wichtige Rolle. Mehr über Tengen und die aktuellen Projekte der Gemeinde auf dem kommunalen Infoportal. 

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